„Shavasana ist eine herausfordernde Praxis“ – mit dieser unpopular opinion lehne ich mich etwas aus dem Fenster, schließlich gilt Shavasana im Yoga gemeinhin als „leichte“ Position, als „Erleichterung“, als die Position, in der man in die tiefe Entspannung, in die Ruhe geht.
Aber was, wenn diese Position gar nicht allen von uns leicht fällt? Was, wenn sie mental und emotional herausfordernd ist? Was bedeutet das für die gesamte Yogapraxis?
Ein Annäherungsversuch aus einer ungewöhnlichen Perspektive.
„Nur“ zu liegen scheint sehr einfach zu sein. Doch wenn der Körper zur Ruhe kommt und es keine klaren Anleitungen mehr gibt, was es zu tun gibt, dann ist man alleine mit seinen Gedanken und Emotionen, die in diesem Moment sehr laut werden können. So kommt es nicht selten vor, dass die Endentspannung einer Yogastunde, insbesondere dann, wenn sie in Stille und ohne Fokus auf z. B. die Atmung oder eine konkrete Übung erfolgt, nicht die erhoffte Entspannung bringt. Stattdessen wird sie vielleicht zu dem Raum, in dem das Gedankenkarussell los geht. „Mache ich das gerade richtig?“, „Wie lange dauert das denn noch?“, „Ich muss noch XY erledigen“ – und ähnliche Gedankengänge beginnen sich zu verselbstständigen. Vielleicht kommen dann noch Ärger und Selbstzweifel hinzu, dass man es „nicht einmal hier“ schafft, zur Ruhe zu kommen.
Und um die steilen Thesen zu komplettieren kommt noch ein dritter Aspekt ins Spiel: Als dicke Person fragt man sich in Angeboten, die in irgendeiner Form etwas mit Bewegung zu tun haben, nahezu unweigerlich und konstant: „Kann ich das jetzt?“ oder auch: „Werde ich mich blamieren?“ Mit den wechselnden Haltungen in jeder Yogastunde kommt diese Frage also immer wieder aufs Neue auf, oftmals verbunden mit Gefühlen wie Scham oder Selbstzweifel. Schlimmstenfalls ergänzt um die Angst davor, vor allen anderen Teilnehmenden korrigiert oder – bewahre – vorgeführt zu werden. Mit der Ansage, dass man nun in Shavasana kommen könne, kann man das (vorerst) erleichterte Seufzen im Raum fast greifen. Selbst im virtuellen Raum. Woher kommt diese Erleichterung? Aus der Vorfreude auf die Entspannung? Oder auch aus der Erleichterung darüber, sich jetzt nicht mehr permanent abgleichen zu müssen und in durchgehender Vorsichtshaltung zu sein, ob man die nächste Haltung „gut“ mitmachen kann oder nicht.
All diese Empfindungen sind valide. Und sie sind Symptom einer Gesellschaft, in der Bewegung immer auch an einen Leistungsgedanken und Selbstoptimierung geknüpft ist. In den seltensten Fällen bewegen wir uns einfach nur zum Spaß – ohne Bewertung, ohne Anspruch, es besonders gut oder ästhetisch zu machen. Und als dicker Mensch wird dieser (empfundene und vermittelte) Anspruch noch einmal mächtiger. Schließlich wird er ergänzt um die Angst davor, exponiert zu werden, nicht mithalten zu können, nicht zu genügen, zu viel zu schwitzen und und und.
Aber jetzt mal ernsthaft: Das kann es doch nicht sein!? In einer Yogastunde bereiten wir den Körper mit den Haltungen darauf vor, tiefer in die Meditation kommen zu können. Warum sollte es also okay sein, dass all diese Gedanken, Sorgen und Beschäftigungen mit unserem Körper dazu führen, dass wir davon abgehalten werden, in die Meditation und eine tiefe Entspannung zu kommen!?
Yoga scheint der Inbegriff von Achtsamkeit zu sein, die gelebte Realität sieht häufig jedoch anders aus. So werden also verschiedene Lebensrealitäten, Empfindungen und Bedürfnisse bei der Stundenkonzeption nicht mit gedacht. Und ein gutes Stundenkonzept darf bei Shavasana, der Endentspannung in Rückenlage, nicht aufhören. Ebensowenig darf es den Fokus darauf legen, nur Körperhaltungen zum Selbstzweck oder gar zum Zweck der Selbstoptimierung zu vermitteln. Es darf auch nicht davon ausgehen, dass alle Teilnehmenden die gleichen Voraussetzungen mitbringen und alle Vorgaben gleichermaßen erfüllen können.
Umso dringender brauchen wir wirklich achtsame Yogaangebote – die die oben genannten Aspekte berücksichtigen und die Teilnehmenden so dabei begleiten, achtsam mit sich selbst zu sein.
Es braucht Yogalehrer*innen,
Es braucht weniger Hochglanz-Lifestyle-Anspruch und mehr aufrichtiges Interesse und Verbindung.
Zusätzlich dürfen wir uns auch bewusst machen, dass Veränderung ein Prozess ist, der Zeit braucht. Nichts von dem, was wir über viele Jahre gelernt und verinnerlicht haben, lässt sich mit einer Yogastunde umkehren.
Aber mit achtsamen, vertrauensvollen Yogaangeboten ist es möglich, Gelerntes ganz allmählich und Schritt für Schritt zu entlernen. Ins Vertrauen zu kommen. Zu sich und seinen Bedürfnissen zu kommen. Zu verstehen, warum wir uns verhalten, wie wir uns verhalten – und welchen Anteil daran unser Umfeld und die Gesellschaft haben. Und mit all diesen Prozessen werden wir spüren, dass Shavasana uns allmählich den Raum für die Entspannung bieten kann, die wir uns wünschen. Und dass es bis dahin eine fortschrittliche (und fortgeschrittene) Praxis war.